Mit der Autorin Joana Osman starteten am Donnerstagabend die 5. Oberurseler Literaturtage im vollbesetzten Kulturcafé Windrose. Ein Abend, der nicht nur literarisch berührte, sondern auch wichtige gesellschaftliche Impulse setzte. Besonders erfreulich war auch die Teilnahme einer Gruppe Geflüchteter aus unserem Sprachcafé, die gerade zuvor nebenan mit uns "Deutsch sprechen" geübt hatten.
Eine der intensiven Lesungspassagen beschrieb die Flucht ihrer Großmutter aus Jaffa 1948. Während der dramatischen Ereignisse nach dem UN-Teilungsplan wurde die Stadt abgeriegelt. Mit drei kleinen Kindern musste Osmans Großmutter zum Hafen fliehen - eine von tausenden Menschen, die sich an jenem Tag auf den schmalen Kais drängten, "hinter ihnen fielen Schüsse und vor ihnen war nichts als das offene Meer."
Der Weg der Familie führte über Beirut in die Türkei. Dabei traf ihr Großvater eine schicksalhafte Entscheidung: Anders als viele andere Flüchtlinge weigerte er sich, in die großen Lager zu ziehen. "Wenn wir ins Lager ziehen, dann bleiben wir da. Da kommen wir nie raus, da können wir uns nie entwickeln", zitierte Osman ihren Großvater. Jahrzehnte später wurden die Bewohner dieser Lager Opfer schrecklicher Massaker.
Osmans Vater fand durch ein Programm der Bundesregierung nach Deutschland. Unter dem Motto "Hilfe zur Selbsthilfe" wurden damals junge Menschen aus Entwicklungsländern zum Studium eingeladen - mit der Bedingung, anschließend in ihre Heimat zurückzukehren und ihr Wissen weiterzugeben. Mit hervorragenden Noten aus der Flüchtlingsschule und Deutschkenntnissen vom Goethe-Institut nutzte er diese Chance. Als der Libanesische Bürgerkrieg ausbrach, wurde aus dem Studenten jedoch ungewollt ein Flüchtling - zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits Osmans Mutter kennengelernt. Er entschied sich, das Studiendarlehen zurückzuzahlen und in Deutschland zu bleiben.
Diese erste Reise nach Beirut als 15-Jährige verdankte Osman der Weitsicht ihrer deutschen Mutter. "Das ist eine kluge Frau", erklärte die Autorin, "die hat gewusst, dass sie ein Kind mit multiethnischem Background hat, dass es einen Background braucht." Für ihre Mutter war klar: Um gesund aufzuwachsen, müsse ihre Tochter beide Identitäten kennenlernen und vereinen.
Mit ihrem Onkel besuchte sie damals das frühere Wohnhaus der Familie im christlichen Viertel Aschrafieh. Vor einem halb zerstörten Haus fegte eine Frau den Boden ihres ehemaligen Wohnzimmers. "Überall tanzen die Geister in der staubigen Luft", las Osman aus der titelgebenden Passage - ein Moment, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart auf berührende Weise verbinden.
Die intensive Recherche für ihr Buch führte die Autorin Jahre später gemeinsam mit ihrer Cousine Zeynep erneut nach Israel. In Tel Aviv trafen sich die beiden Cousinen, die wie "ein linguistisches Frankensteinmonster" zusammen funktionieren - Zeynep spricht fließend Arabisch, kann es aber nicht lesen, während Osman arabische Texte entziffern, aber kaum sprechen kann. Gemeinsam machten sie sich auf die Spurensuche ihrer Familiengeschichte in Jaffa. Ein Tag endete mit einem unvergesslichen Moment: Im plötzlich einsetzenden Regen teilte eine ältere israelische Dame ihren Schirm mit ihnen. Als Zeynep nach ihrer Herkunft gefragt wurde und schließlich gestand "But in fact we are Palestinians, just to be honest", antwortete die fast 90-jährige Dame nach kurzem Nachdenken sanft: "Welcome home, darling. Welcome home."
Als Friedensaktivistin und Mitbegründerin der "Peace Factory" initiierte Osman 2012 eine bemerkenswerte Social-Media-Kampagne. Alles begann mit einer überraschenden Schlagzeile: "Israel loves Iran". Die daraus entstandene Bewegung erreichte schnell eine Reichweite von einer Million Menschen. "Wir haben festgestellt, dass eine Sache am besten funktioniert: wenn wir die Menschen dazu bringen, dass sie einander ihre Geschichte erzählen."
Die Komplexität der eigenen Identität beschäftigt die Autorin bis heute. Im Libanon, wo ihre Familie Zuflucht fand, war das Palästinenser-Sein stets problematisch. "Der Libanon ist eine zutiefst gespaltene Gesellschaft", erklärte Osman. "Als Palästinenser im Libanon ist man immer schon der Underdog gewesen. Und zwar so richtig unten." Dieses Ausgegrenztsein habe viele traumatisiert. "Die Frage nach dem palästinensischen Anteil ist eine Art Reizwort, weil es bedeutet, sich einzugestehen, dass man eben kein Libanese ist und nicht dazu gehört."
Im Gespräch mit dem Publikum entwickelte sich eine intensive Diskussion über die Rolle der Gesellschaft in Konflikten. Besonders erschreckend sei, so Osman, wie früh die Dehumanisierung beginne. Eine von ihrer Freundin initiierte Studie zu Schulbüchern in Israel und im Westjordanland zeige deutlich, wie schon Kinder lernen, die jeweils andere Seite als "die Anderen" wahrzunehmen. "Das ist eben die Dehumanisierung, die von beiden Seiten betrieben wird und sehr früh anfängt."
Osman betonte die Notwendigkeit, "Gleichzeitigkeit" zu lernen und auszuhalten: die Gleichzeitigkeit des Leides, der Traumata und der Verantwortung auf allen Seiten. "Wenn ich sage 'ich bin für Israel' - für welches Israel? Für Netanyahu? Für die Zivilgesellschaft? Für die Ultraorthodoxen? Und wenn man sagt 'ich bin für Palästina' - für wen? Für die Hamas? Die Fatah? Die palästinensische Zivilbevölkerung? Die säkularen oder christlichen Palästinenser?"
Aus dem Publikum wurde nach Chancen gefragt, ob denn die Jugend aus dieser Gewaltspirale rauskommen könne? "Hätten Sie mich das vor dem 7. Oktober gefragt, hätte ich anders geantwortet", reagierte Osman auf die Frage nach Zukunftsperspektiven. "Jetzt hat sich ein massives Trauma auf sehr viele andere Traumata gelegt. Das ist so eine Schichttorte aus Trauma."
Trotz der dramatischen Situation gibt es weiterhin Menschen, die Brücken bauen. Osman berichtete von konkreten Beispielen: "Ich habe einen Freund, dessen Familie im Gaza-Streifen ums Überleben kämpft aktuell und eine Freundin in Israel, die dieser Familie so gut sie kann finanziell hilft, indem sie eine Crowdfunding-Kampagne erstellt hat, damit die Menschen sich dort das Allernotwendigste zum Leben kaufen können." Diese Freundschaften, entstanden durch die Peace Factory, haben auch den 7. Oktober überdauert. "Dieser Samen, der damals gelegt wurde, der ist nicht einfach weg, nur weil das passiert ist. Das machen die Leute immer noch. Aber es ist eine kleine Minderheit."
Der Abend endete mit einem hoffnungsvollen Fazit: "Wenn man verinnerlicht hat, dass man in jeder Kultur, in jeder Religion, in jedem Land solche und solche hat, dann kann man sich ja vielleicht auch einfach diejenigen suchen, mit denen man gerne befreundet wäre - dann hat man schon die Brücke gebaut."
Die weiteren Highlights der Literaturtage
Die 5. Oberurseler Literaturtage versprechen bis zum 12. November weitere literarische Höhepunkte unter dem Motto "BeziehungSWeisen":
1.11.: Saskia Henning von Lange liest aus "Heim" (Rathaus Oberursel, 19:00 Uhr)
2.11.: Mirrianne Mahn präsentiert "Issa" (Portstrasse Jugend & Kultur, 19:00 Uhr)
3.11.: Przemek Zybowski mit "Das pinke Hochzeitsbuch" (Kulturcafé Windrose, 11:00 Uhr)
5.11.: Yandé Seck liest aus "Weiße Wolken" (Kulturcafé Windrose, 19:30 Uhr)
7.11.: Nele Pollatschek stellt "Kleine Probleme" vor (Kulturcafé Windrose, 19:30 Uhr)
10.11.: "Beethoven und die Frauen" mit Anke Sevenich (Kulturcafé Windrose, 11:00 Uhr)
10.11.: Florian Wacker präsentiert "Zebras im Schnee" (Kulturcafé Windrose, 17:00 Uhr)
12.11.: Necati Öziri liest aus "Vatermal" (Gymnasium Oberursel, 19:00 Uhr)
Joana Osmans "Wo die Geister tanzen" ist im C. Bertelsmann Verlag erschienen und in der Buchhandlung Libra erhältlich. Der gelungene Auftakt macht neugierig auf die kommenden Veranstaltungen – einige weitere auch wieder im Kulturcafé Windrose, das sich seit Jahren für den interkulturellen Dialog in Oberursel engagiert.
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