Positionierung der Windrose in der eskalierenden Abschiebedebatte
Als Windrose mit einem klar formulierten Vereinszweck (siehe unten) wollen und sollen wir uns nicht parteipolitisch äußern. Aber wir müssen uns inhaltlich zu den jüngst im Wahlkampf in Umlauf gebrachten Gedanken äußern, weil sie unmittelbar unseren Vereinszweck, unser Selbstverständnis und unsere Projekte betreffen und uns auch in Hinblick auf die künftige Entwicklung positionieren.
Kurz zusammengefasst die Lage: Asylbewerber, Kriegsflüchtlinge (und am Ende auch Arbeitsmigranten und Bürger mit Migrationsgeschichte) werden in den Debatten für ein Ausmaß an Gewalt, Kriminalität und Kosten verantwortlich gemacht, die nicht mehr zu dulden seien. So wird es inzwischen im aktuellen Wahlkampf in mehr oder weniger aggressiver Rhetorik von fast allen Parteien formuliert (allerdings zeichnet sich diese Zuspitzung schon länger ab). Man konstatiert unerträgliche Vollzugsdefizite (bei den Abschiebungen, bei der Überwachung von Gefährdern) des Staates und verspricht neue Regeln und Gesetze, die den staatlichen „Vollzug“ sicherstellen sollen – von ganz rechts bis weit nach links.
Deutschland ist ein Einwanderungsland!
Dazu sagen wir: Die „Vollzugsdefizite“ standen an der Wiege der Windrose bei Ihrer Gründung vor fast 50 Jahren Pate. Denn die deutschen Institutionen, Schulen und die deutsche Gesellschaft waren nicht darauf vorbereitet und eingestellt, dass diese „Gastarbeiter“ nicht nur für „uns“ arbeiten, sondern dauerhaft hier leben werden.
Die Windrose gab Antworten auf wichtige Fragen: Wie lernen die Kinder aber deutsch? Wie spricht jemand mit geringen Deutschkenntnissen mit den Behörden? Wie und wo finden sich Orte für die Kultur der verschiedenen Nationen?
Einwanderung mehrt den Wohlstand
Mit der Gründung nahm der Verein Windrose die Aufgabe an, diese Fragen ehrenamtlich und gemeinnützig in Oberursel zu beantworten, so gut er konnte. Er konnte es sehr gut, wie sich zeigte und alle hatten viel Spaß bei den gemeinsamen Festen. Ach ja: Kriminalität gab‘s auch, Schlägereien auf dem Fußballplatz, Wohnungsmangel und „zusätzliche“ Kosten.
Aber allmählich wurde es besser. Wenige sprachen noch von „Gastarbeitern“, die inzwischen 3. Generation besuchte selbstverständlich die weiterführenden Schulen und ihre Eltern waren als Geschäftsleute oder Mitarbeiter*innen in Betrieben oder Kolleg*innen bei Stadtwerken oder in der Stadtverwaltung in Oberursel geschätzt.
Der Wandel der „Gastarbeiter“ zu deutschen Bürgern war wesentlicher Teil des allgemeinen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschrittes.
1991: Nicht vorbereitet auf Fluchtbewegungen
Diese Entwicklung wurde allerdings von schrillen Tönen in einer andauernden Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft und das Asylrecht begleitet, verstärkt seit dem Beginn des Jugoslawienkrieges. Viele Menschen flohen vor dem Krieg nach Deutschland. Sie waren keine Asylsuchenden und keine Arbeitsmigranten. Aber sie mussten einen Asylantrag stellen, um hier zu bleiben – 1992 waren es ca. 300.000 Anträge von Menschen aus „Ex-Jugoslawien“.
Sie wurden in Behelfsunterkünften untergebracht, durften nicht arbeiten, aber ihre Kinder besuchten die Schule. Kein ernstzunehmender Politiker hatte die Idee, sie an der Grenze abzuweisen. Man ging davon aus, dass sie „bald“ nach dem Krieg wieder zuhause leben würden. Der Jugoslawienkrieg endete 2001 und anders als erwartet, strömten die Menschen nicht alle zurück.
Denn obwohl sie zwischenzeitlich ein oft quälend provisorisches Leben in Deutschland führten, waren ihre Kinder inzwischen integriert, sprachen Deutsch, machten ihre deutschen Schulabschlüsse, begannen Berufsausbildungen. Und „zu Hause“ gab es Trümmer und größere Ungewissheiten. In Oberursel bedeutete das: Die ursprünglich für 5 Jahre konzipierte Containerunterkunft blieb bis etwa 2017 in Betrieb, inzwischen ein „desaströses Elendsquartier“, das es bis in die Berichterstattung des ZDF schaffte …
Gesetzlich regelte man im sogenannten Asylkompromiss 1993 unter Kohl, dass Menschen kein Recht auf Asyl haben, wenn sie durch einen sicheren Drittstaat einreisen. Im Jahr 2000 reformierte die rot-grüne Bundesregierung das Staatsbürgerschaftsrecht, ermöglichte die doppelte Staatsbürgerschaft, schaffte anschließend bessere rechtliche Rahmenbedingungen für die Zuwanderung von Fachkräften und definierte Deutschland als Einwanderungsland. Das war besser, aber noch nicht gut genug.
Aus dem Jugoslawienkrieg hätte man lernen können:
Es gibt Fluchtbewegungen, die schlichtweg nicht an der Grenze aufzuhalten sind. Darauf sollte man juristisch und organisatorisch vorbereitet sein.
Selbst wenn man - wie auch viele der Flüchtlinge – bei der Ankunft davon ausgeht, dass sie zurückkehren werden, werden sehr viele im Laufe weniger Jahre in Deutschland sesshaft, integrieren sich und übernehmen wichtige Funktionen und Verantwortung in Wirtschaft und Gesellschaft. Das funktioniert umso besser, je weniger sie daran gehindert und je mehr sie bei entsprechender Motivation unterstützt werden. Jedenfalls leben heute viele Bosnier, Kroaten und auch Serben hier, inzwischen als deutsche Staatsbürger.
Deutschland muss sich endlich nicht nur formal, sondern auch organisatorisch und kulturell als Einwanderungsland verstehen.
Ach ja: Und dann kamen nach 2004 mit der Aufnahme osteuropäischer Länder noch viele neue EU-Bürger, um hier zu arbeiten … Das ist natürlich Stress und Veränderungsdruck für alle, die schon da sind.
Um diesen Stress zu verringern, muss man zunächst die grundlegende Veränderung anerkennen – Deutschland ist ein Einwanderungsland – und sie dann organisieren.
2014: Wir machen es trotzdem nochmal (fast) genauso
Im Frühjahr 2011 begann der furchtbare Bürgerkrieg in Syrien, der zu einem brutalen Krieg der Assad-Familie gegen den größten Teil der eigenen Bevölkerung wurde. Millionen wurden vertrieben und fristeten ihre Existenz in Zeltlagern im Libanon oder in der Türkei. Ihre Versorgung wurde finanziell durch europäische und westliche Länder sichergestellt. Schnell zeichnete sich ab, dass das Geld für die Ernährung nicht reicht. Früh warnten Stimmen, dass die Leute weiterziehen würden und sich eine unaufhaltsame Fluchtbewegung entwickeln würde. Dennoch konnte man die Millionen Euro nicht aufbringen, mit denen die Situation vor Ort hätte stabilisiert werden können. Also liefen die Leute zu hunderttausenden los … es gibt tatsächlich Menschen, die glauben, man hätte sie mit entsicherter Waffe aufhalten können.
Hat man nicht und der Staat war auf allen Ebenen unvorbereitet – vom Bund bis zu jeder Kommune. Aber es gab ein unglaubliches zivilgesellschaftliches Engagement, das diese Defizite auffing. Selten gab es eine so enge und pragmatische Zusammenarbeit zwischen Bürgern und staatlichen Institutionen. Turnhallen wurden zu Bettenlagern, in denen Ehrenamtliche den Betrieb organisierten. Am Anfang ging alles schnell und pragmatisch, aber dann wurde es schnell zäh und destruktiv. Die Regeln waren (immer noch) zu kompliziert, das Asylrecht immer noch nicht praxistauglich und die Behörden und Verwaltungen von den widersprüchlichen Regeln und einer absurden Aufgabenteilung überfordert. So ist es bis heute.
Die Windrose aber machte das, was sie schon 1976 tat: Schülerhilfe, Sprachunterricht, Beratung, Ermutigung, Unterstützung bei der Integration. Pragmatisch. Mit großem Erfolg. Mit großer und breiter Unterstützung, getragen von großer Sympathie.
2015 ff: Wir schaffen das (?!)
Im Herbst 2015 sagte Bundeskanzlerin Merkel diesen berühmten Satz. Heute wird behauptet: Wir haben es nicht geschafft und werden es nie schaffen. „Es“ meint wohl: Integration, Vielfalt, Multikulti – in einem Wort: Einwanderungsland geht nicht. Wir sagen als Windrose: Doch, wir haben viel geschafft! Aber noch nicht genug, wir sind noch nicht fertig. Der Staat begann, Schulen, Unterkünfte, Regelungen an die praktischen Herausforderungen anzupassen. Und hat in Zusammenarbeit mit den Millionen von Ehrenamtlichen viel erreicht. Aber es fehlt auch noch viel.
Die Ankunft von 1 Million Ukrainern 2022 hat auf der praktischen Ebene vieles beschleunigt. Aber letztlich gibt es immer noch keine schlüssige und nachhaltige Strategie für den konstruktiven Umgang mit Migration, Flucht und Asyl. Immer noch gibt es im Staat und in der Gesellschaft kein klares Selbstverständnis als Einwanderungsland. Diesbezügliche Konzepte erreichen die Öffentlichkeit nicht. (zusammengefasst z.B. hier: https://www.progressives-zentrum.org/kompass-statt-5-punkte-plan-leitlinien-einer-progressiven-migrationspolitik/)
Der Jugoslawienkrieg dauerte 10 Jahre, der Krieg in Syrien 13 Jahre. Die Windrose arbeitet seit 12 Jahren in der Flüchtlingshilfe und der Staat und die Ehrenamtlichen stellen sich seit dem legendären Satz von Merkel der Aufgabe (10 Jahre). Schauen wir auf den skizzierten Verlauf zurück, ist die Zeit zu kurz, um Vollzug zu melden.
„Wir schaffen das“ dauert länger. Wir sind erst bei vielleicht 70 %, aber immerhin schon bei 70 %. Und zwar auch wegen des wesentlichen Beitrages der „Zivilgesellschaft“, der ehrenamtlich Engagierten. Wir lassen uns unsere Erfolge nicht ausreden! Wir gestalten Deutschland als Einwanderungsland. Wir gestalten Integration seit 1976!
Migrationsministerium statt Abschiebedebatte
1986 gründete die CDU das Bundesumweltministerium. Weil man Umweltprobleme erkannte und sie strukturiert lösen wollte. Wir sagen: im Zeitraum zwischen 1991 und 2000 hätte man auf die Idee kommen können, ein Migrationsministerium zu gründen, das die Dinge strukturiert regelt. Hat man nicht getan, sollte man jetzt nachholen.
Weil: Eigentlich haben wir in den letzten 50 Jahren ja viel gelernt. Wir sind faktisch ein Einwanderungsland geworden. Gemeinsam mit den Einwanderern wurden wir wohlhabender und nur gemeinsam können wir unseren Wohlstand erhalten. Und nicht zuletzt sind das Essen und die Feiern vielfältig besser geworden.
Es ist klar, dass Millionen der Geflüchteten hierbleiben werden. Das zu organisieren, ist die tatsächliche Aufgabe – die längst hätte besprochen, publiziert, beschlossen und vollzogen werden müssen. Stattdessen hören wir von Abschiebung, Unterbindung von Familiennachzug und Abweisung an der Grenze … .
Menschenwürde und Moral
Statt ernsthaft um Lösungen zu ringen, erleben wir seit Jahren eine verkorkste fundamentale Debatte: Die Staatsbürgerschaft dürfe nicht „verschenkt“ werden. Wer gegen Abschiebung und Abweisung sei, fördere implizit Vergewaltigung und Mord. Andererseits wird „Menschenwürde“ als universeller Kampfbegriff für alle Lebenslagen genutzt und nicht respektvoll als Fundament unseres Grundgesetzes anerkannt. An „uns“ adressiert: Man sollte in der eigenen Rhetorik und in pragmatischen Konflikten sparsam mit dem Gebrauch des Begriffs „Menschenwürde“ umgehen. Die Achtung der Menschenwürde ist tief im europäischen Denken verankert, wir müssen sie nicht gebetsmühlenartig betonen.
Aber all die völkischen Schützer des „christlich-jüdischen Abendlandes“ sollten wissen, dass der Begriff der „Menschwürde“ seine Wurzeln in der griechischen Philosophie, im Christentum und im Judentum hat. „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ steht daher im Grundgesetz. Das bedeutet: der Wert, der allen Menschen gleichermaßen und unabhängig von ihren Unterscheidungsmerkmalen wie Herkunft, Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung oder Status zugeschrieben wird, darf nicht angetastet werden, sondern muss im Gegenteil staatlich gefördert und geschützt werden.
In der Praxis wird es nie perfekt sein. Aber ohne die Orientierung an der „Menschenwürde“ droht ein Missbrauch staatlicher Gewalt. Und die Denkfigur der Menschenwürde hat auch Konsequenzen für jede Person im Einwanderungsland Deutschland. Sie bedeutet ganz praktisch: Wenn ich den Wert anderer antaste, deren anderssein ich nicht verstehe, entwerte ich mich zugleich selber.
Auf dieser Grundlage kümmern wir uns um unsere „neuen Nachbarn“, die das Leben hierhergeführt hat. Wir betrachten sie als Menschen, respektieren sie, wir hoffen und helfen, dass sie für uns gute Nachbarn sein werden, dass sie später als ausgebildete Fachkräfte unsere Autos und Heizungen reparieren, unsere Zähne sanieren, etc.
Wir haben schon heute sehr oft sehr viel Freude miteinander – es bilden sich neue Freundschaften. Und unsere Projekte steigern ganz einfach das Wohlbefinden aller Beteiligten.
In unserer täglichen Arbeit – von Schülerhilfe über Sprachcafé und Flickwerke bis zur Beratung – erleben wir die realen Herausforderungen der Integration. Wir sehen, wo es klemmt – und wir sehen auch, was funktioniert. Wir laden alle Verantwortlichen und konstruktiv interessierten Bürger ein: Kommen Sie in unsere Projekte. Sprechen Sie mit den Menschen, die täglich „Integration leben“ – als Ehrenamtliche, als Zugewanderte, als Nachbarn. Nutzen Sie die praktischen Erfahrungen vor Ort.
In diesem Sinne machen wir weiter und feiern im kommenden Jahr unser 50-jähriges Vereinsjubiläum. Wir freuen uns jetzt schon darauf.
ps: Unser Vereinszweck – wir machen weiter
Der Vollständigkeit halber sei hier auszugsweise unsere Satzung zitiert:
Zweck des Vereins ist …
die Förderung der Hilfe für politisch, rassisch oder religiös Verfolgte, für Flüchtlinge, Vertriebene, Aussiedler, Spätaussiedler, Kriegsopfer, Kriegshinterbliebene, Kriegsbeschädigte und Kriegsgefangene, Zivilbeschädigte und Behinderte sowie Hilfe für Opfer von Straftaten; Förderung des Andenkens an Verfolgte, Kriegs- und Katastrophenopfer; Förderung des Suchdienstes für Vermisste (§ 52 Abs. 2 Nr. 10 AO)
die Förderung internationaler Gesinnung, der Toleranz auf allen Gebieten der Kultur und des Völkerverständigungsgedankens (§ 52 Abs. 2 Nr. 13 AO)
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